Tiefe Kontemplation

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Ein Mensch, der bewusst lebt, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er zu tiefer Kontemplation fähig ist. Was ist darunter genau zu verstehen, wie lässt sich das erreichen?

Tiefe Kontemplation bedeutet, dass man sich selbst auferlegt, über die eigene Innenwelt nachzudenken, dass man Gegebenheiten und Geschehnisse permanent prüfend hinterfragt und dass man sich bedeutungsvolleren und tieferen Gedanken öffnet, indem man die Dinge aus immer neuen Blickwinkeln betrachtet. Das ursprüngliche arabische Wort tefekkur ist ein Verbalsubstantiv und ließe sich auch übersetzen mit: sich selbst eine Last auferlegen, oder mit anderen Worten: sich ernsthaft darum bemühen und die nötige Willenskraft aufbringen, etwas zu erkennen. Berücksichtigt man seine Wortbildung, so steht der Begriff tefekkur für einen systematischen, tiefgründigen, andauernden Denkprozess, nicht jedoch für eine simplere Form des Denkens.

Der Koran legt uns aktives Nachdenken nahe

Die tiefe Kontemplation gehört zu den grundlegenden Lehren des Islams. Viele Verse des Korans schließen mit einem Verweis darauf, nachdem zum Beispiel die Himmel, der Regen, die Pflanzenwelt, Wolken, Wind und Sterne, die Atmosphäre, die Erschaffung der Lebewesen, die Ernährung der Menschen und anderes erwähnt wurden. Somit wird diese Erwähnung unterschiedlichster Zeichen Gottes sowohl aus der äußeren Welt als auch aus der inneren Welt im Koran stets mit dem Thema der tiefen Kontemplation verknüpft. Beispielsweise spricht der Allmächtige zunächst von der Erschaffung der Himmel und der Erde, von der Verkürzung und Verlängerung von Nacht und Tag, vom Dahinsegeln von Schiffen auf dem Meer zum Wohle der Menschheit, von Seiner Wiederbelebung der ausgedörrten Erde durch das Herabsenden von Regen, von der Erschaffung verschiedener Lebensformen auf der Erde, von den Bewegungen der Winde und Wolken, die zwischen Himmel und Erde auf Gottes Befehle warten (jederzeit bereit, Seine Anweisungen entgegenzunehmen); und zum Schluss erinnert Er daran, dass für Menschen, die ihren Verstand gebrauchen (El-Baqara, 2:164), in alledem Hinweise auf die Existenz und Einheit Gottes verborgen sind. Ähnliche Verse gibt es viele im Koran. Einige von ihnen enden mit einer Akzentuierung des Denkens, einige mit einer Akzentuierung des Reflektierens, einige mit einer Akzentuierung des Wissens. Diese Akzentuierungen unterscheiden sich im Detail, meinen aber im Grunde das Gleiche, nämlich, dass der Mensch über die Zeichen, die Gott in der äußeren und inneren Welt erschaffen hat, nachdenken sollte, dass er dafür seinen Verstand gebrauchen und in tiefe Kontemplation eintauchen sollte.

Die Tatsache, dass so viele Verse am Ende betonen, dass (in all dem) Zeichen sind für Menschen, die ihren Verstand gebrauchen, beinhaltet aber noch eine weitere Botschaft: Indem der Koran die Bedeutung der tiefen Kontemplation mit einer Präsensform im Arabischen unterstreicht, lenkt er unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf das aktive Denken. Das passive Denken hingegen erwähnt er an keiner Stelle. Im Gegenteil, indem er die zeitlich unbegrenzte Kontemplation anspricht, legt er uns nahe, neben der Vergangenheit auch über die Gegenwart und die Zukunft nachzudenken. Wenn die tiefe Kontemplation also als ein Akt beschrieben wird, der permanenter Wiederholung bedarf, dann ruft der Koran die Gläubigen auf diese Weise dazu auf, die Gegenwart und die Zukunft nicht unabhängig von der Vergangenheit zu betrachten; und Bindeglieder zur Vergangenheit sind Vernunft und Logik. Gegenwart und Zukunft sollten durch tiefe Kontemplation destilliert werden. Dazu gilt es, alle erforderlichen Schritte auf dem Boden der Vernunft zu unternehmen. Die Tatsache, dass das aktive Denken so im Fokus steht, belegt auch, dass es wichtig ist, regelmäßig in tiefe Kontemplation einzutauchen. Daneben möchte ich an dieser Stelle noch einen weiteren Punkt ansprechen. In Koranübersetzungen wird das arabische Wort yaʿqilūn häufig mit „nachdenken“ übersetzt. Doch diese Übersetzung wird der Bedeutung im Arabischen nicht hundertprozentig gerecht. Auch wenn es keine bessere Alternative geben mag, spiegelt sie die ursprüngliche Bedeutung nur unzureichend wider. Gegebenenfalls könnte man sich ausführlicherer Formulierungen bedienen, zum Beispiel: durch den Gebrauch des Verstandes Einsicht in Gegebenheiten und Geschehnisse gewinnen; durch Kontemplation Früchte ernten, an die der Verstand heranreichen kann; die Schöpfung mittels der Vernunft prüfen etc.

Keine Selbsterkenntnis ohne Kontemplation

In Anbetracht der Tatsache, dass Gott an so vielen Stellen im Koran auf Denken und Kontemplation verweist, sollten gläubige Menschen ihren Verstand gebrauchen und sowohl ihre Innenwelt als auch ihre Außenwelt gründlich erforschen. In seinem Buch Der Mensch, das unbekannte Wesen stellt Alexis Carrel (Nobelpreisträger für Medizin von 1912) bezüglich der Innenwelt des Menschen fest, dass man dem Menschen selbst dann Respekt und Ehrfurcht zollen müsse, wenn man ihn ausschließlich aus einer physiologischen und anatomischen Perspektive betrachte. Seine innere und äußere Struktur ist so vollkommen, dass man, wenn man sich vor jemand anderem als Gott niederwerfen sollte – um das Unmögliche anzunehmen –, dies vor dem Menschen tun müsse. Gott duldet nicht, dass man sich vor jemand anderem als Ihm niederwirft. Die Niederwerfung der Engel vor Adam war lediglich eine Prüfung, die den feinen Punkt des Gehorsams gegenüber Seinen Befehlen verdeutlichen sollte. Darüber hinaus weist die Position des Propheten Adam als (richtungangebende) Gebetsnische[1] der Niederwerfung vor Gott ebenfalls darauf hin, dass kein anderes Geschöpf einen so erhabenen Rang und so ausgezeichnete, besondere Qualitäten besitzt wie er. Adam war in gewisser Weise der Schnittpunkt von Materie und Geist, von physischer und spiritueller Sphäre. Oder anders ausgedrückt, er war ein umfassender Spiegel für die Gesamtheit der Namen Gottes. Wer also beginnen möchte, dieses vollkommene Wesen mit all seinen körperlichen und geistigen Aspekten zu studieren, wird nicht umhinkommen, in tiefe Kontemplation einzutauchen. Ob in Bezug auf Körperteile wie Hände, Füße, Ohren, Nase, Zunge oder Lippen oder im Hinblick auf seine Essenz – der Mensch gleicht einem perfekten Buch, das seine Leser zum Nachdenken anregt, sofern es nur richtig gelesen wird. Der Mensch ist mit einem großartigen System ausgestattet, das alle Anforderungen erfüllt. Eine nähere Betrachtung seiner fleischlichen Seele (nefs), seines Herzens, seiner Gefühle, seines Wissens um sein Bewusstsein und seiner Fähigkeit, Willenskraft aufzuwenden, legt diese Erkenntnis nahe. Weil der Mensch das Steuer dieses Systems in den eigenen Händen hält, weil er selbst es lenkt und weil niemand es besser kennt als er – schließlich hat er seinen Thron am zentralen Punkt dieses Systems aufgestellt –, ist er auch derjenige, der es am besten zu verstehen vermag. Wer sich nach innen wendet und über die physischen und spirituellen Aspekte des Menschen nachdenkt und sich in diesen Gedanken vertieft, wird anschließend auch seine Außenwelt mit neuen Augen betrachten, so wie die Menschheit einst ins All aufbrechen konnte, nachdem sie sich ein genaues Bild von der Erde gemacht hatte. Oder um es anders auszudrücken: Wer nach eingehender Erforschung seiner selbst erkannt hat, dass Gott nichts vergeblich erschaffen hat, wird auch in seiner Außenwelt die unterschiedlichsten Beispiele für Weisheit erkennen, ähnlich wie Bienen, die mit verschiedenen Essenzen Honig nach Hause zurückkehren. Die Dynamik der Kontemplation führt uns vor Augen, wie machtlos und beschränkt wir sind und wie wichtig es ist, dankbar zu sein. Sie sorgt dafür, dass wir der Schöpfung mit mehr Mitgefühl begegnen und uns mit noch mehr Begeisterung in den Dienst Gottes stellen.

[1] Kaaba (Anm. d. Red.).

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