Seele und Gewissen

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Was charakterisiert die Seele (nefs) und das Gewissen (widjdān), die ja beide eine zentrale Rolle im Leben des Menschen spielen?

Das Wesen des Menschen zeichnet sich zum einen durch materielle und zum anderen durch immaterielle Aspekte aus. Auf die gleiche Dichotomie verweisen, wenngleich in Nuancen leicht abweichend, Wortpaare wie engelhaft – satanisch, spirituell – moralisch, körperlich –geistig oder triebgesteuert – gewissengesteuert. Für unsere Belange dürfte es sinnvoll sein, die spirituellen und materiellen Aspekte des Menschseins isoliert voneinander als unabhängige Mechanismen zu behandeln und zu bewerten. Ich ziehe es vor, den moralischen Aspekt als Mechanismus des Gewissens (widjdān) und den materiellen Mechanismus als Mechanismus der Seele (nefs) zu bezeichnen.

Der Mechanismus, den wir das Gewissen nennen, setzt sich aus den innersten spirituellen Veranlagungen zusammen: Herz, Geist, sirr (Mysterium), ḫafī (eine Veranlagung, die noch feinsinniger ist als das Mysterium), achfā (der feinfühligsten aller Veranlagungen), Willenskraft, Auffassungsvermögen und Bewusstsein sowie aus Gefühlen und Empfindungen. Und alle Arten von Begierden und Launen, Trotz, Hass, Wut und Sturheit – Eigenschaften, mit denen der Mensch aus bestimmten Gründen und zu bestimmten Zwecken ausgestattet ist – bilden den Mechanismus der Seele (nefs). Diese beiden Mechanismen arbeiten fast immer gegeneinander. Aber wenn es dem Mechanismus des Gewissens gelingt, den Mechanismus des Diktier-nefs zu unterwerfen, dann verwandelt sich auch dieser in einen positiven Mechanismus, der uns dabei hilft, zu reifen und uns weiterzuentwickeln. Wie von den Sufis beschrieben, kann der Mechanismus der Seele durchaus zu einem nützlichen Instrument werden, sofern es die Seele schafft, aus ihrem emmāra (diktierend) genannten Zustand, in dem sie lediglich Böses gebietet, auszubrechen und höhere Rangstufen zu erklimmen, auf denen sie sich selbst anklagt (nefs lewwāme – bereuend), Inspirationen empfängt (nefs mulheme), zu innerer Gelassenheit und Frieden findet (nefs mutmaʾinne), mit Gott zufrieden ist (nefs rādiyye), das Wohlgefallen Gottes erlangt (nefs mardiyye) und sich schließlich vervollkommnet und reinigt (nefs safiyye). Daher reicht es nicht aus, den Menschen nur spirituell zu unterweisen und ihn in der Wahrnehmung allein auf sein Gewissen zu reduzieren.

Nehmen wir beispielsweise die Begierde. Wird diese Empfindung nur um ihrer selbst willen befriedigt, so wird sie nichts Gutes hervorbringen. Genau das tut sie aber durchaus, wenn ihr in einem statthaften Rahmen nachgegeben wird, das heißt: zwischen verheirateten Ehepartnern, deren Liebe zueinander und eheliche Beziehungen belohnt werden. Als die Gefährten des Propheten Muhammed – Friede sei mit ihm – überrascht waren, das von ihm zu hören, erklärte er ihnen: „Wenn jemand seinen Begierden außerhalb des statthaften Rahmens freien Lauf lässt, tut er oder sie damit Unrecht. Aber wenn er oder sie sich an diesen statthaften Rahmen hält, tut er kein Unrecht.“ Das Vermeiden von Unrecht verspricht genauso großen Lohn wie die Erfüllung einer Pflicht. Dies ist eine sehr logische Erklärung, da sie ganz im Einklang mit der menschlichen Natur steht. Die Begierde ist also Teil des Mechanismus der Seele, kann uns aber trotzdem dienlich sein.

Sämtliche Sinnesempfindungen, die zum Mechanismus der Seele gehören, dürfen als Vorgeschmack auf die Verheißungen des Paradieses gedeutet werden. Manche Dimensionen des Paradieses lassen sich durch die Gefühle und Sinne erfahren, die dem Gewissen zuzurechnen sind, andere wiederum durch Empfindungen, die zum Mechanismus der Seele gehören – vorausgesetzt, diesen Empfindungen werden Zügel angelegt. Vielleicht ist dies ja einer der Gründe dafür, dass das Paradies sowohl den Geist bzw. die Seele als auch den physischen Körper ansprechen soll. (Als Randbemerkung sei mir gestattet zu erwähnen, dass es Sinn macht, Adams Erschaffung aus Erde, Lehm, Ton oder Ähnlichem dahingehend zu interpretieren, dass sie uns über die menschliche Natur Aufschluss geben soll. Davon auszugehen, dass der Ton und der Lehm dieser uns bekannten Welt gemeint sind, wäre sicherlich zu oberflächlich gedacht.)

Nehmen wir als weiteres Beispiel die Empfindung Wut oder Zorn. Zorn hat die Macht, Menschen zu verderben. Er kann sie sogar zu Mördern machen, zu Pharaonen, an deren Herzen und Köpfen, Händen und Augen Blut klebt. Aktiviert man seinen Zorn jedoch in Momenten, in denen man ihn wirklich benötigt, etwa in einem Ausnahmezustand bei der Verteidigung von Leben und Nation, so wird man dafür zu Recht gelobt und belohnt werden. Ein solcher Zorn wird von Gott gutgeheißen und nicht weniger geschätzt als beispielsweise Sanftmut. Wer sich einmal vor Augen führt, welch hohe Stufe wir schon dadurch erklimmen können, dass wir von unseren irdischen Dispositionen auf korrekte Art und Weise Gebrauch machen, wird sich auch leicht vorstellen können, welche Möglichkeiten uns erst offenstehen, wenn wir unser Gewissen richtig handhaben. Selbst die irdischen Dimensionen unseres Seins ermöglichen uns, auf die Rangstufen der Engel aufzusteigen. Und wenn wir uns zusätzlich noch unser Gewissen zunutze machen, können wir sogar diese Stufen hinter uns lassen. Denn die Willenskraft der Engel beschränkt sich darauf, dass sie zwischen Alternativen wählen, die allesamt gut sind. Wir Menschen hingegen müssen uns entscheiden, ob wir das Gute oder das Schlechte wählen. Da sich der Lohn immer nach der Schwere der Aufgabe bemisst, stehen Menschen, die sich allen Versuchungen zum Trotz für das Gute entscheiden, auf einer höheren Rangstufe als die Engel.

Das Wort Gewissen (widjdān) entspringt im Arabischen derselben Wortwurzel wie das Wort „finden“. Der Mensch bedient sich seines Gewissens, um zu sich selbst und zu seinem Herrn zu finden. Hunderte von Gelehrten – von den großen Persönlichkeiten des islamischen Denkens wie Imam Rabbani, Imam Ghazzali, Rumi und Bediuzzaman bis hin zu vielen Koryphäen der westlichen Welt – haben sich dem Thema menschliches Gewissen über ihre ganz persönlichen inneren Entdeckungen und Wahrnehmungen genähert. Diese inneren Entdeckungen und Wahrnehmungen erscheinen mir sehr wichtig. Gottesfreunde erhalten Zugang zu ihrem Gewissen, indem ihnen tief im Herzen bestimmte Wahrheiten enthüllt werden. Denker und Philosophen hingegen erhalten diesen Zugang durch Wahrnehmung und Intuition. Interessanterweise stimmen beide Gruppen darin überein, dass das Gewissen niemals lügt. Auch Bediuzzaman zählte das Gewissen in seinen früheren Werken zu den wichtigsten und augenscheinlichsten Beweisen für die Existenz Gottes. Später hingegen distanzierte er sich von dieser Ansicht, da er der Meinung war, dass das Gewissen nicht die Objektivitätskriterien erfülle, sondern eher als subjektiv zu bewerten sei. Tatsächlich ist nicht jeder Mensch dazu in der Lage, die kryptische Sprache des Gewissens zu verstehen; also kann es nicht als objektiver Beweis herhalten. Aber für diejenigen, die seiner Sprache mächtig sind, ist das Gewissen der größte und stärkste aller Beweise. Keine andere Information und keine noch so große Ansammlung von Wissen führen auf eine höhere Stufe des Gewahrseins. 

Wer aber der Sprache des Gewissens mächtig ist, wird in aller Deutlichkeit realisieren, dass wir Menschen macht- und mittellos sind. Und diese Erkenntnis wird ihn dazu veranlassen, voll und ganz auf Gott den Allmächtigen zu vertrauen und sich bei allen seinen Wünschen an Ihn zu wenden. Je klarer uns wird, dass wir auf Unterstützung angewiesen sind, desto klarer wird uns auch, dass eine Instanz existieren muss, die uns diese Unterstützung bieten kann. Sonst wäre es ja absurd gewesen, uns als hilfsbedürftige Wesen zu erschaffen, und im Universum gibt es keine Absurditäten. Zu jeder menschlichen Empfindung existiert ein Gegenstück, und so werden auch diese Punkte im Gewissen ohne jeden Zweifel außerhalb des Gewissens Resonanz finden. Doch wer sein Leben lang nicht auf sein Gewissen gehört hat, wird dafür nicht empfänglich sein. Das Bewusstsein gehört zwar zum Gewissen, aber für sich allein genommen besitzt es keinen Wert, weil es eben nur ein Teil des Ganzen ist. Andererseits kann es, wenn es sich mit der Willenskraft, der Empfindung und dem Herzen vereinigt, eine zentrale Rolle spielen.

Geradeso wie alle anderen beredten Zeugen für die Existenz Gottes, ist auch das Gewissen eine heilige, himmlische Stimme, die die Wahrheit verkündet; aber nur dann, wenn es über die oben beschriebenen Eigenschaften verfügt. Von einem Gewissen, das von seiner fleischlichen Seele unterjocht wird, darf dies nicht erwartet werden. Man stelle sich einmal jemanden vor, der vollständig zum Sklaven seiner Lust, seiner Feindseligkeit, seiner Wut oder seines Ranges und Namens geworden ist. Was auch immer diese Person tut, sie wird sich nie von diesen negativen Gefühlen freimachen können, die ihre Seele knechten. Ihr Gewissen ist gefesselt und völlig einflusslos. Und sie selbst dürfte man getrost als im wahrsten Sinne des Wortes „gewissenlos“ beschreiben. Diese Menschen wissen nicht, wie der Mechanismus des Gewissens funktioniert. Sie spüren weder, welche Bedeutung sich hinter diesem Mechanismus verbirgt, noch können sie nachempfinden, welch hohen Zielen er dient. Eine weitere wichtige Erklärung zu diesem Thema stammt von Immanuel Kant und findet sich in seinem Werk Kritik an der reinen Vernunft. Dort stellt er fest, dass es die praktische, und nicht die theoretische (reine) Vernunft sei, die uns Gott erkennen lässt. Wenn sich ein Mensch wohlverhalte, werde ihm dieses Wohlverhalten mit der Zeit zu seiner inneren Natur und verhelfe ihm dazu, einen Punkt zu erreichen, den er mit abstraktem Wissen nicht erreichen könnte. Tatsächlich können uns abstrakte Erkenntnisse, abstrakte Informationen niemals so hoch erheben. Egal wie viele Bücher jemand liest oder auswendig lernt – wer die nötige Entschlossenheit vermissen lässt und nicht rechtschaffen handelt, wird niemals die Stimme seines Gewissens vernehmen können. Wer jedoch seinem Gewissen folgt, wird von ihm übermittelt bekommen, wie er im Alltag rechtschaffen handeln kann.