Extremismen

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Heutzutage wird man in fast allen Bereichen des Lebens mit haarsträubenden Ansichten und extremen Sichtweisen konfrontiert. Worauf sollte man achten, wenn man solche Extremismen vermeiden will?

Wer seinen Glauben so praktizieren möchte, wie vom Schöpfer vorgesehen, und sich an diesem Glauben orientieren möchte, sollte sich unbedingt darum bemühen, ein ausgeglichenes und maßvolles Leben zu führen. Denn wer die Balance verliert, wird automatisch einem von zwei Extremen zuneigen – entweder der Maßlosigkeit oder der Gleichgültigkeit. Da sich diese Extreme gegenseitig bedingen, münden sie schnell in einen Teufelskreis. Der Prophet Muhammed indes rief seine Gemeinschaft immer wieder dazu auf, maßvoll zu sein. Wer seinem Beispiel folgt, läuft daher nicht Gefahr, in eines der beiden Extreme zu verfallen.

Der Mittelweg

Das koranische Konzept des irāṭ el-Musṭaqīm (der rechte Weg) wurde zumeist als das Beschreiten eines Mittelwegs oder eines Wegs der Mäßigung definiert, und zwar im Hinblick auf drei entscheidende Veranlagungen des Menschen: Verlangen, Aggression und Denken.[1] Allerdings lassen sich auch andere Dispositionen wie Rivalität, Neid, Intention oder aufmerksame Betrachtung aus dieser Perspektive betrachten. Theoretisch ist es möglich, für jedes Gefühl und jeden Gedanken des Menschen einen Mittelweg zu benennen. Nehmen wir einmal den Begriff der aufmerksamen Betrachtung (naẓar) mit folgender Bedeutung: Aneignung von Einsicht in bestimmte Phänomene, verbunden mit der Fähigkeit, sie zu bewerten. In diesem Zusammenhang repräsentiert der Optimist das obere Extrem, der Pessimist das untere Extrem und der Realist den Mittelweg. Während die beide Ersteren dazu neigen, nur die gute beziehungsweise nur die schlechte Seite eines zugrunde liegenden Sachverhalts zu sehen, zeichnet sich der Realist dadurch aus, dass seine Einschätzung alle Fakten einbezieht. Nichtsdestotrotz betont Bediuzzaman in seinem Buch Hakikat Çekirdekleri (Samenkörner der Wahrheit): „Wer die Dinge positiv sieht, denkt positiv, und wer positiv denkt, hat Freude am Leben.“ (Denn wer das, was um ihn herum geschieht, mit dem Auge der Weisheit betrachtet, wird dadurch zum Denken und damit auch zum positiven Handeln angeregt.) Darüber hinaus ist es durchaus hilfreich, wenn man selbst scheinbar unangenehme Dinge so positiv wie möglich sieht – was allerdings nicht bedeutet, dass man die Wirklichkeit ausblenden und in einer Fantasiewelt leben sollte. Vielmehr sollte man die Dinge realistisch betrachten, ohne vor der Realität zu flüchten oder in Hoffnungslosigkeit zu verfallen; oder mit anderen Worten: dem Mittelweg folgen und eine ausgewogene Sichtweise vertreten.

Wenn dieser Mittelweg eingeschlagen und Mäßigung geübt wird, kann selbst die böswillige Triebseele, das Diktier-Nefs, der spirituellen Entwicklung des Menschen zugutekommen. Ja sogar Satan, der den Menschen durch Verlockung und Täuschung auf Abwege zu führen versucht, kann theoretisch die spirituelle Entwicklung fördern und bewirken, dass jemand sich Gott zuwendet (solange der Betreffende den Grund der Erschaffung Satans und die Funktion des Satans innerhalb der Schöpfung nicht missversteht). Wird Satan jedoch als eigenständige Kraft verstanden, die dazu in der Lage ist, Macht auszuüben, so führt dies unweigerlich zu Trugschlüssen; so wie auch die Fehlgeleiteten, die davon ausgehen, dass das Licht und die Dunkelheit über eigene Kräfte verfügen. Diese Menschen glauben, dass das Licht und die Dunkelheit eigenständige Quellen der Macht sind; dass das Licht keinen Schaden anrichten kann, dass aber die Repräsentanten der Dunkelheit zufriedengestellt werden müssen. Letztere Annahme verleitet sie zu einem schwerwiegenden Fehler: Satanisten, die dieser Philosophie anhängen, versuchen Satan zu gefallen, um sich vor seinen bösen Kräften zu schützen. In diesem Fall ist die Tatsache, dass man einer Kreatur, die doch keine andere Waffe besitzt als Verlockung und Täuschung, die Fähigkeit zuspricht, über einen Teil der Mächte und Kräfte zu verfügen, die allein dem Schöpfer gehören, das obere Extrem und grenzt an Wahnsinn. Das untere Extrem wäre hier, die Verlockung und Täuschung des Satans vollständig auszublenden, seinen Anstachelungen und Einflüsterungen gegenüber blind zu sein und damit die Warnungen Gottes zu ignorieren. Es besteht kein Zweifel daran, dass Satan ein Feind des Menschen ist, und wer mit seiner Willenskraft verantwortungslos und achtlos umgeht, riskiert, dass dieser unerbittliche und treulose Erzfeind des Menschen die ewige Glückseligkeit gefährdet.

Opfer des eigenen Erfolgs

So wichtig es ist, ein Gegengewicht zu den negativen Faktoren zu schaffen, die ins Verderben führen können, so wichtig ist es auch, die eigenen Leistungen, mit denen man gesegnet ist, nicht zu hoch zu bewerten. Das heißt, man sollte stets darauf achten, was man mit dem Herzen und dem Körper im Namen des Glaubens, des Dienstes an Gott und der Moral bewerkstelligt, und sicherstellen, dass man nicht vom Mittelweg abweicht. Zum Beispiel sollten sich gläubige Menschen darum bemühen, ihren gottesdienstlichen Handlungen – dazu gehören beispielsweise Hauptgebet, Sozialabgabe, Pilgerfahrt, Fasten, Bittgebete und die Reflexion über Gottes Werke (tefekkur) – so gewissenhaft wie möglich zu verrichten und immer weiter zu vervollkommnen. Im Koran steht geschrieben: „Handelt, und Gott wird euer Handeln sehen, geradeso wie Sein Gesandter und die wahren Gläubigen“ (Et-Tewbe, 9:105). Folglich sollten alle rechtschaffenen Werke auf die beste Art und Weise realisiert werden, nämlich in dem Bewusstsein, sie Gott, Seinem Gesandten und den Gläubigen zu präsentieren. Kurzum, man sollte sich nie mit dem Erreichten zufriedengeben, sondern nach Perfektion streben. Und selbst wenn man Gott auf nahezu perfekte Weise anbetet, darf man nie die Dreistigkeit besitzen, diesen Erfolg für sich zu beanspruchen; denn man beschert sich seinen Erfolg nicht selbst, sondern dieser Erfolg ist eine Gunst Gottes. Hier ist das untere Extrem, den Gottesdienst oberflächlich, träge oder gar nicht zu verrichten, während das obere Extrem darin besteht, ungebührlichen Stolz auf den eigenen Gottesdienst zu verspüren und den Segen, den Gott Seinem Diener gewährt, wenn dieser sich nach Kräften bemüht, für sich selbst zu beanspruchen. Ein gläubiger Mensch kann sich noch so sehr bemühen und nach noch so großer Vollkommenheit in seinen Gebeten streben – sobald er den Erfolg seiner Bemühungen sich selbst zuschreibt, führen ihn sein Hochmut und seine Scheinheiligkeit ins Verderben. Ein wirklich erfolgreicher Mensch zeichnet sich durch Zurückhaltung, Ergebenheit und Bescheidenheit aus; und er wird sich ein ums andere Mal die Frage stellen: „Womit verdient ein Diener wie ich einen solchen Segen?“ Man sollte also zum einen versuchen, seinen Gottesdienst immer weiter zu vervollkommnen, und zum anderen seine Triebseele gerben, wie früher die Gerber ihre Häute gegerbt haben. Darüber hinaus sollte man bedenken, dass die Leistungen und Erfolge, die jemandem gewährt werden, möglicherweise Prüfungen darstellen, die ins Verderben führen können, wenn man unbegründeten Stolz empfindet. Falsche Propheten hat es immer gegeben, selbst in Zeiten, in denen das Licht der Wahrheit allerorten hell leuchtete; beispielhaft seien hier nur Eswed el-ʿAnsī und Museylime der Lügner[2] genannt. Diese bedauernswerten Menschen wurden Opfer besonderer Talente, die sie in sich selbst entdeckten, und gerieten in die Klauen von Stolz und Egozentrik.

Das inflationäre Auftauchen „göttlich inspirierter“ Erlöser 

Solche Fälle von Verirrung und Fehlleitung waren nie auf ein bestimmtes Zeitalter in der Geschichte beschränkt, sondern in fast jedem Zeitalter zu beobachten. Auch heute erlebt man wieder, dass es Menschen gibt, die auf imponierende Weise reden und schreiben können oder bereits einige Schritte auf dem spirituellen Weg zurückgelegt haben und dann plötzlich die Bodenhaftung verlieren, sich als Idol aufspielen und hochmütig werden. Sie suchen die Öffentlichkeit und scharen einen Kreis naiver Menschen um sich, bis sie nach kurzer Zeit glauben, dass ihr Stern aufgegangen ist. Aus diesem Grunde herrscht gerade heute eine wahre Inflation an „Mehdis“, an sogenannten göttlich inspirierten Menschen. Sogar ich selbst kenne fünf oder sechs solcher „Erlösergestalten“, die in der muslimischen Gemeinschaft in Erscheinung getreten sind. Drei von ihnen haben versucht, mich zu kontaktieren, einer hat mich sogar persönlich aufgesucht. Er sagte mir, er sei 22 Jahre alt. Dann behauptete er: „Ich war ja bereits davon ausgegangen, dass ich aus der Abstammungslinie des Prophetenenkels Huseyn hervorgegangen bin, aber Untersuchungen haben ergeben, dass ich dazu auch noch von Hassan abstamme, dem anderen Enkel des Propheten.“[3] Ich habe ihn daran erinnert, dass Ergebenheit und Bescheidenheit eine Zierde sind. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass man unwürdige Menschen daran erkennt, dass sie sich für bedeutend halten, dass sie sich im wahrsten Sinne des Wortes fast auf die Zehenspitzen stellen, um größer zu erscheinen, als sie wirklich sind, während man würdevolle Menschen an ihrer ergebenen Haltung erkennt, weil sie sich kleiner machen, als sie wirklich sind. Nach unserem Gespräch glaubte ich, ihn überzeugt zu haben. Doch zu meiner Überraschung sagte er unmittelbar vor seiner Abreise zu mir: „Was Sie sagen, mag ja stimmen; aber ich habe in diesem Punkt doch gar keine Wahl [schließlich wurde ich ja von Gott auserwählt und berufen]!“ Dabei gibt es im Islam doch gar keinen geistigen Rang oder Titel, der einen Menschen dazu verpflichten würde, anderen Menschen etwas zu verkünden. Weder die Imame der sunnitischen Denkschulen (der hanafitischen, schafiitischen, malikitischen und hanbalitischen) noch der Mehdi bilden da eine Ausnahme, sondern einzig und allein die Prophetenschaft.[4] Aber jemandem, der von diesem Gedanken besessen ist, lässt sich das nur sehr schwer vermitteln. Möge Gott alle egozentrischen und hochmütigen Menschen, die von dem Anspruch, Mehdi zu sein, besessen sind, auf den rechten Weg zurückführen.

Einen letzten Punkt möchte ich an dieser Stelle hinzufügen. Es sei daran erinnert, dass Menschen mit ähnlichen Ambitionen gelegentlich auch in rechtschaffenen Zirkeln ihr Unwesen treiben, die sich Werten wie Ergebenheit, Bescheidenheit und Aufrichtigkeit verpflichtet fühlen und keinerlei Ansprüche an irgendjemanden stellen. Wenn solche Leute ihren Größenwahn auf der Basis ihrer Zugehörigkeit zu einem solchen Zirkel ausleben, ist es unter Umständen sogar noch viel schwieriger, sie zur Vernunft zu bringen. Zum Beispiel wäre es denkbar, dass einer von ihnen behauptet: „Bis vor kurzem war ich Schüler von diesem und jenem Meister, der von 1 000 Engeln oder Geistwesen unterstützt wurde. Doch nun haben ihm 900 davon den Rücken gekehrt und werden fortan mich unterstützen.“ Etliche Beispiele aus allen Zeitaltern belegen, dass Menschen durch Wahnvorstellungen aller Art zu Sklaven ihrer Triebseele und des Satans werden können. Insofern sollte nicht vergessen werden, dass selbst zu Zeiten, in denen die eingesäte Saat aufzugehen beginnt und die Gärten vor Rosen nur so strotzen, immer wieder auch mit Dornen zu rechnen ist. Man sollte auf dem Weg, den man beschreitet, stets wachsam sein. Denn wer allzu naiv ist, wird sich schnell täuschen und verführen lassen. Geradeso wie Dornen und Rosen zusammen auftreten, kommt es vor, dass neben dem Gesang der Nachtigallen auch das Krächzen der Raben zu hören ist. Und wer den schönen Gesang der Nachtigall nicht kennt, wird vielleicht auch von diesem Krächzen begeistert sein. Man muss aufpassen, dass man sich nicht täuschen lässt, was gelingen wird, wenn man sich – so wie die herausragenden historischen Persönlichkeiten, die Gutes bewirkt haben – ein gutes Verständnis der Dinge aneignet und umsichtig handelt. 

[1] Der Begriff irāṭ el-Musṭaqīm bezeichnet einen Mittelweg fernab aller Extreme, der die menschliche Psyche ebenso berücksichtigt wie die Realitäten des Lebens und der Schöpfung. Dieser Mittelweg erzieht und schult die Menschen und diszipliniert und verfeinert dadurch ihre Veranlagung Denken (ihren Intellekt); in dieser Hinsicht schützt er vor Extremen wie Demagogie, Arglist und Unvernunft und fördert umgekehrt den Erwerb von Wissen und Weisheit. Die Disziplinierung und Verfeinerung der Veranlagung Aggression und des mit ihr verbundenen Verteidigungsimpulses wiederum bewahrt vor Fehlverhalten, Unterdrückung und Feigheit, während sie Gerechtigkeit und Tapferkeit fördert. Was die Veranlagung Verlangen betrifft, beugen ihre Disziplinierung und Verfeinerung Ausschweifungen und Hedonismus vor und sublimieren sie (Anm. d. Red.).

[2] Eswed el-Ansī und Museylime der Lügner lebten zur gleichen Zeit wie der Prophet Muhammed und erhoben auf politischen Druck ihres Umfelds hin den Anspruch, ebenfalls Propheten zu sein.

[3] Aus der Nachkommeslinie der beiden Enkel des Propheten abzustammen, gilt als eine der Eigenschaften des Mehdi. 

[4] Die Propheten, die von Gott auserwählt und mit der Prophetenschaft betraut wurden, mussten sich als Propheten zu erkennen geben und sämtliche Offenbarungen, die sie empfingen, an ihre Gemeinschaft weitergeben (Anm. d. Red.).

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